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Johannes Jarchow: Die Fremde In Mir (2018) 8.0

Johannes Jarchow: Die Fremde In Mir (2018)

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Liebe, Misanthropie, Einsamkeit und Selbstmitleid für Fortgeschrittene

8.0

[Heide Witt] Ein rasender innerer Monolog, den ich mit angehaltenem Atem gelesen habe. Joyce, Michel Butor und Updike fallen mir ein, in deren Tradition er steht. Dennoch ist der Roman völlig eigenständig und innovativ.

QUEERmdb8.0
Reader Rating: ( 3 votes ) 7

In Johannes Jarchows Debütroman DIE FREMDE IN MIR kommt niemand lebend raus. Und bis zum Final Countdown wird vor allem eins: gelitten bis der Arzt kommt. Wie soll es auch anders sein, wenn man sich jeden Werktag prostituiert. Für Geld. Man kann ihm nicht entkommen. Während Melanie ihren Frust im Schnapps ersäuft, findet Julian seine große Liebe. Beides macht es natürlich schlimmer. Ihre gemeinsame Psychotherapeutin Frau Braak ist genauso ratlos wie sie. Aber am Ende wird alles gut, versprochen, und alle werden von ihren Kopfschmerzen erlöst. Mit Pillen, Flinten und Korn.

Titel: Die Fremde In Mir
AKA: Die Fremde In Mir - Ein bipolarer Roman · Die Fremde In Mir - Ein Psychiatrisches Märchen
Autor: Johannes Jarchow
Genre: Psychologischer Roman, Gesellschaftsroman, Homoerotischer Roman, Schwuler Roman, Transgender-Roman, Queerer Roman, LGBT-Roman, Schwuler Liebesroman, Postmoderner Roman, Horror-Roman
Thematik: schwul, transgender, schwuler Sex, schwule Prostitution
Originalsprache: Deutsch
Erstveröffentlichung: 31. August 2018
Aktuelle Fassung: 24. Dezember 2020 (3., komplett überarbeitete Auflage)
Formate: Taschenbuch, eBook, Kindle
Taschenbuch: 185 Seiten
FSK 18

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INHALT VON DIE FREMDE IN MIR
So lange ist es schon her, seit er ihn das erste Mal sah, dass er sich kaum erinnern kann, nicht mehr weiß, wie es ohne ihn war, nicht mehr weiß, wie es ohne ihn geht. Seit Julian Tim kennt, ist er besessen wie von einem Fluch. Alte Bewältigungsstrategien haben aufgehört zu funktionieren. Sein ganzes beschissenes Leben drängt plötzlich nach Veränderung. Doch wie rauskommen aus dieser verdammten Show?

Melanie hat Angst. Dass der Alkohol ausgeht, dass der Pegel nicht mehr reicht, alles zu ertragen, vor den Menschen, vor den Männern. Sie will alles hinschmeißen. Jeden Tag. Sie will sterben. Oder endlich happy sein, irgendwie. Nie mehr Sex mit den falschen, für Geld. Ihr Leben soll anders sein. Oder soll aufhören. Sofort. Eine Psychotherapie muss her.

Frau Braak lächelt nie. Sie mag es nicht, wenn ihre Klienten vulgär werden. Ein Kreuz, um das sie bei keiner Sitzung mit Melanie oder Julian herumkommt. Manchmal hilft ihr eine halbe Xanax oder ein Tavor. Dann allerdings verwischt ihre Gleichgültigkeit die Gegenübertragung, auf die sie große Stücke hält. Sie kann sich nicht entscheiden, was ihr wichtiger ist.

Irgendwann sind wir so zynisch, dass wir nichts mehr fühlen und niemand uns versteht.

KRITIK
[Juliane Seidel, like-a-dream.de - Der queere Rezensionsblog] DIE FREMDE IN MIR ist ein außergewöhnliches Buch von Johannes Jarchow, das durch eine extreme Darstellung von Sex und Gewalt und einer Hauptfigur besticht, die den Leser nicht loslässt. Das Buch ist eine Gratwanderung und gibt dem Leser einen tiefen Einblick in die Welt eines Menschen mit bipolarer Störung. Wer auf leichte Unterhaltung steht, ist hier definitiv falsch – „Die Fremde in mir“ ist ein Roman, er fernab der üblichen Unterhaltungsliteratur steht und dessen extreme Darstellung von Sex und Gewalt eher abstößt. Komplette Kritik im Original

[Joachim Bartholomae, Männerschwarm Verlag] DIE FREMDE IN MIR ist durchaus interessant, nur leider erschlägt das Konzept die literarische Vorstellung. Die monologische Schreibweise wirkt zudem recht bald ermüdend. Es ist das Eingeständnis, dass dem Autor noch nichts eingefallen ist. Ich schaue eine von Grund auf überarbeitete Fassung zu einem späteren Zeitpunkt gerne noch einmal an.

[Sibylle Berg, Autorin] Talent hat er auf jeden Fall. Ist nur zu verschwurbelt. Lad ihn mal zu meinem Schreibkurs ein!

Die Fremde In Mir von Johannes Jarchow (2018) -- Psychologischer Roman als Taschenbuch und eBook

KOMMENTAR
[Rosa Hah] In der FREMDEN IN MIR geht es um alles. Um Leben. Und Tod. Um Grenzerfahrung und Grenzüberschreitung. Das ganze Buch ist ein einziger Tabubruch. Der sich unbedingt zu lesen lohnt. Lesen! Und darüber reden!

Hat das Leben einen Sinn? Die Frage. Die offen bleibt. Wie gebe ich meinem Leben einen Sinn? Das Buch schildert den verzweifelten Versuch zweier junger Menschen, dahinter zu kommen. Zu leben. Selbst zu gestalten. Eine Suche nach der eigenen Identität. Einen furchtbaren Lebensentwurf. Am Leben zu hängen. Das Leben zu hassen. Allein zu sein. Das schwarze Schaf. Das Besondere. Das Einsame. Das Andere. Sich helfen zu lassen. Auf der Suche nach der unbedingten Liebe. Zu scheitern. Auferstehen.

Die lieblose Kindheit wird von Melanie und Julian durch Gewalt, Alkohol und ohne jede kindlich-fröhliche Leichtigkeit traumatisiert überstanden. Nie wieder möchten sie so verletzt werden. Und schwenken sofort nach Verlassen des Elternhauses in eine Lebenswelt ein, die sie selbst bestimmen und in der sie sich von niemandem etwas vormachen lassen. Hart gegen sich selbst. Hart gegen andere. Unverletzbar nach außen. Zutiefst verletzt und verwundet im Innern. Melanie ist gefangen in sich. Ohne jegliche positive Energie. Die Welt ist schlecht. Julian spürt die Leere wie eine Last auf sich. Alle um ihn herum werden permanent bewertet, abgewertet, benutzt und weggeworfen. Selbst-Achtung? Ein Fremdwort. Achtung, Respekt anderen gegenüber? Fehlanzeige. Über-Leben. Jeden einzelnen Tag und immer auf der Suche. Was mache ich hier eigentlich? Es wird reflektiert, hinterfragt. Es findet sich NICHTS.

Ein Buch mit tausend losen Enden. Ein Tabubruch. Man kommt nicht zur Ruhe beim Lesen dieses Buches. Ein verzweifelter Versuch der Bestandsaufnahme. Und immer wieder der Frage: Wie weiter? Dem Leser wird viel abverlangt. Lange Szenen furchtbarer Perversion und Gewalt wechseln mit Beschreibungen des Alltags, springen in Phantasiewelten und landen in Therapeutengesprächen. Das sind für mich die beklemmendsten und traurigsten Szenen. Julian und Melanie, die sich helfen lassen möchten, die Hilfe suchen und viele Therapeuten- und Arztgespräche beschreiben, die allesamt niemals zum ernsthaften gegenseitigen Verständnis führen, sondern meist aus Zeitgründen abgebrochen werden, wenn es gerade ein Gespräch werden kann. Es funktioniert nicht. Der Krankenhaus- und Therapeutenbetrieb bietet weder genügend Raum noch Zeit für ernsthaftes Arbeiten miteinander. Julian durchschaut den Betrieb, provoziert und greift ihn an oder versucht sich als graue Maus, um schnell wieder nach Hause zu kommen. Sein Schutzpanzer ist groß. Niemand kommt an ihn heran.

Das Auf und ab, das Hin und Her, die schnellen Wechsel und die vielen Sprünge und Brüche - das Buch lässt sich nich einfach so nebenher lesen. Man verflucht es, ist abgestoßen und angewidert, man möchte es an die Wand werfen, um es im nächsten Moment wieder aufzunehmen und weiterzulesen. Da passiert etwas. Nichts Alltägliches. Nichts Gewöhnliches. Etwas zwischen Ekstase und Starre, die Bilder und Gedanken wechseln manchmal in Sekundenbruchteilen. Oft möchte man eingreifen und beide Protagonist*innen in den Arm nehmen. Ihm Schutz und Ruhe geben. Nur den Moment, um sich auszuruhn, wie Tamara Danz einst sang. Man lebt mit Julian, Melanie, Tim, der Braak, dem Monster in Weiß, fühlt sich mit ausgeliefert und wird über die Grenzen des Erträglichen gefordert.

Da fällt jemand durchs Raster. Laut und lautlos. Kein Ort. Nirgends.

ZUM AUTOR
Johannes Jarchow, geboren 1980 in Ostberlin, dort aufgewachsen, beendete im 2007 sein Psychologie-Studium und arbeitet derzeit als Psychotherapeut mit psychosomatischer Spezialisierung in verschiedenen Arztpraxen. In seinem Nebenfach Philosophie schrieb er 2006 seine Abschlussarbeit (veröffentlicht im Wissenschaftsverlag Grin) bei Dr. Mirjana Surbeck-Vrhunc zum Thema der kulturellen Identität und Individuation und zum Verhältnis von Selbst und Anderssein. Dabei griff er Hegels Motiv von Herrschaft und Knechtschaft aus dem gleichnamigen Kapitel der "Phänomenologie des Geistes" von 1807 auf.

Seit der späten Schulzeit schrieb Johannes Jarchow Kurzgeschichten und Gedichte, mit 17 Jahren seinen ersten Roman. Schon damals zeigte sich ein Schreibstil, der sich auch in seinem aktuellen Roman wiederfinden lässt: Im Vordergrund seiner Geschichten stehen die Figuren, nicht der Plot, nicht die äußerliche Welt. Als Anhänger des Subjektivismus führt Johannes Jarchow jeglichen Bezug auf eine gemeinsame Realität radikal ad absurdum. Thematische Schwerpunkte sind die Auseinandersetzung mit sog. psychischen Störungen, Identität, Fremdheit, Grenzen zwischen Innen und Außen, Sprachlosigkeit und Scheitern. Stilbrüche und das auktoriale Erzählverhalten (Tempuswechsel, Leseranreden, Wertungen des Erzählten) sollen auch äußerlich das innere Durcheinander der Protagonisten vermitteln. Durch Überspitzungen, satirische und lyrische Elemente und Derbheit in der Sprache bricht der Autor aus herkömmlichen Erzählnormen aus und entwickelt so einen dynamischen und experimentellen Charakter.

2002 und 2003 wurden zwei seiner Gedichte in einem Anthologie-Band der Nationalbibliothek des deutschsprachigen Gedichts veröffentlicht. Außerdem war Johannes Jarchow Erstautor eines psychiatrischen Artikel zum Thema der Elektrokonvulsionstherapie. 2015 erschien "Keiner fliegt mehr übers Kuckucksnest - Die Angst vor der Elektrokrampftherapie: Eine Studie zur Wahrnehmung der Elektrokonvulsionstherapie" als Taschenbuch ebenfalls im Grin-Verlag.

Als Musiker stellte Johannes Jarchow 2000 das Elektro-Lyrik-Projekt Janus Winter auf die Beine. Seine letzte Veröffentlichung war ein Coversong der Future-Pop-Band VNV Nation, zu dem es auch ein Musikvideo gibt. Zu seinem 2018 veröffentlichten Roman "Die Fremde In Mir" gibt es einen Soundtrack mit selbst komponierten und produzierten Songs (veröffentlicht als "Lieder aus der Fremde" im wort:verlag).

Johannes Jarchow war Mitglied der Piratenpartei.

VORWORT ZUR DRITTEN AUFLAGE
Zunächst eine fette Triggerwarnung an alle, die mit der expliziten, drastischen Darstellung von schwulem Sex, Gewalt, psychischen Störungen (Depression, Borderline, Bipolare Affektstörung, Schizophrenie), selbstverletzendem Verhalten, Suizid und Pädophilie überfordert sein könnten. Dieses Buch ist nicht für sensible Menschen geeignet, es sei denn sie mögen böse, derbe und gewaltige Redrum/Snuff/Horror-Literatur.

Dieses Buch ist ein dreizehn Jahre altes, staunendes Kind, eine Annäherung an meine destruktive, nihilistische Seite, die keinen Ausweg akzeptiert, weil es nur einen Ausweg gibt. Es hat keine Richtung und keinen Grund. Es ist auch nicht das, was es sein soll, wird es nie sein, kann es gar nicht. Allein, es fehlt der Glaube an einen gerichteten, höheren Sinn. Weder ich noch der Leser können jemals damit zufrieden sein. Es ist Ausdruck eines ungerichteten Prozesses, einer sprachlichen Ungenauigkeit, eines Ausgeliefertseins an die Anderen, einer existenziellen Fremdheit, eines Lebens, das nie fertig, nie verstanden ist und unfertig beendet wird. Es bietet keine Illusionen an, keinen Anfang, nur ein sicheres Ende. Kein Ankommen, nur ein permanentes Unwohlsein, aufgezogen als Satire, damit es auszuhalten ist. So wie ich in den dreizehn Jahren gelernt habe, mein eigenes Unwohlsein aushaltbar zu machen, die Schwere auszulachen, die Auslöschung in jedem Augenblick zu akzeptieren, ja zu feiern als einen großen Witz, auch wenn es keine Pointe gibt. So hat auch die Fremde in mir an Leichtigkeit gewonnen. Ich weiß nicht, wie die Anderen es schaffen, stabil in einem Plan des Selbst zu sein. Ich weiß nicht, wie man ein gutes Leben führt, ein gutes Buch schreibt. Ich weiß nur, dass ich es muss.

LESEPROBE
Mein Gesicht im Spiegel glotzt mich ungläubig an. Beschimpft mich. Wüst. Mit Wut in den Augen. Ich erdulde ruhig, was es mir entgegenbrüllt. Zu oft gehört. Es ist mir schon egal. Wie mir alles andere auch egal ist. Meine Wohnung, mein Fernseher, mein Leben. Könnt ihr alles haben. Bitte sehr! Gleichgültigkeit ist meine beste Freundin. Außer ihr habe ich niemanden. Naja, Sam vielleicht. Aber Sam hat so viele, dass das nicht zählt. Ich brauche keine Freunde. Mit denen wäre auch nichts anders. Oder noch schlimmer. Alleine langweilen ist besser als zu zweit. Dann steigert man die Langeweile durch sinnlose Worte. Der Versuch, sie totzureden, macht sie nur umso penetranter. Das Einzige, was hilft, ist Essen. Essen und Kauen. Bis man fett wird. Ein Übel, das mit dem Mittelfinger kuriert werden kann.
Dieses Gesicht im Spiegel ist immer noch am Zetern. Soll doch endlich die Fresse halten! Wie kann es sich nur über so viel Unexistenz aufregen?
Der Mann, der nebenan im Bett liegt, ist ein Parasit, der mich aussaugt. Ist groß. Ist kalt. Ist fordernd. Ist wahnsinnig. Tut weh. Geht nicht fort. Und wenn, dann nur, um zurückzukommen. Um sich in mich hineinzustülpen. Schubweise. Rhythmisch. Ohne Geräusch. Ohne Gefühl. Kaltes Fleisch in kaltem Abgrund. Die Fliesen im Bad unter meinen nackten Füßen sind wärmer. Geben mehr als der Mann, der ein alter Mann ist und riecht und einen schlaffen Hängearsch hat und durchsichtige, weiße Haare am ganzen Körper, und der vor einigen Stunden noch ein anderer Mann war - ein freundlicher, sauberer, guter. Der nur unter großer Anstrengung seinen faltigen Schwanz einsatzbereit kriegt. Ich bin seine Exekutive. Die Staatsgewalt für seinen stinkenden, kleinen Prinzen. Seiner Majestät Untertan.
Er bleibt zu lange. Er bricht die Regeln, die eindeutig und ohne Umschweife erläutert wurden. Sehr unangenehm. Der alte Mann liegt in meinem Bett und droht einzuschlafen. Schnaubt. Wälzt sich. Riecht. Bis in mein Badezimmer. Zwei Wände zwischen uns. Und dreißig Jahre Altersunterschied.
Anstatt ihn anzufahren, fahre ich mich selbst an. Brülle wie ein Löwe. Stehe still und beobachte. Unbeteiligt. Arglos. Gedanken an das Kind, als es neun Jahre alt war und sich im Zoo verlaufen hatte. An einen fettleibigen Opa, der helfen wollte. Gesagt hat er es. Getan etwas anderes. Das Kind hatte nur abgewartet, bis es vorbei war, diese ärgerliche Sache kannte man schon, da hilft kein Weinen, kein Flehen und kein Gebet, dann weiter nach seinen Eltern gesucht, die längst zuhause waren und nichts vermissten.
Brennender Durst. Wasserhahn außer Reichweite.

Meine Wohnung ist sehr sauber, was vor allem daran liegt, dass hier nie etwas geschieht, dessen Spuren nicht schnell wieder entfernt werden können. Die meiste Zeit über liege ich im Bett. Freue mich auf die vor mir liegende Nacht und meinen wohlverdienten, tiefen Schlaf. Am liebsten würde ich mein Leben verschlafen. Und zwischen dem Schlaf essen. Und mich in irgendjemandes Arme legen. Der Rest ist Überbrückung.
Die meisten leben für die Überbrückung. Ich erwarte keine Wunder und großen Hollywood-Geschichten mehr. Die gibt es nur in der Kindheit, wo man noch nicht weiß, dass alles ein blöder Schwindel ist. Ist man erwachsen, hat der Mensch zwei Aufgaben: Fortpflanzung und in Würde sterben. Würde. Konjunktiv.
Es ist, was es ist, und was es ist, ist nicht viel, aber es reicht – großer Himmel, es sind doch nur ein paar Jahre herumzukriegen. Es gibt Kuchen genug für alle und Spiele, für diejenigen, die es sich leisten können. Für alle anderen gibt es illegales Filesharing - Kultur zum Nulltarif. Wir können uns auf harte Stühle setzen und vor unseren dicken, faulen Leibern findet Kultur statt. Wir können uns Buchstaben auf industriegefertigten Seiten und Bild und Ton auf Plastikscheiben gepresst reinziehen. Zwei oder drei Mal im Jahr wirft jemand eine Platte auf den Markt, für die sich das Warten wirklich lohnt. Es gibt Susanne Sundfør, es gibt Schnipo Schranke – mehr sozialen Umgang brauche ich nicht. Oder keine Ahnung. Ich hatte nie Freunde. Und Sam zählt nicht. Ich wiederhole mich. Entschuldigung.
Sams Scheinexistenz findet vor allem außerhalb unserer Wohnung und nachts statt. Sie feiert, säuft, geht ins Theater, fickt alle möglichen Kerle und Weiber. Das ist gut. Sie macht kaum Dreck. Und mein Besuch bleibt meist nicht länger als eine Stunde und zieht die Schuhe noch im Flur aus.
Gepriesen sei die Routine, die uns davon abhält, in die Tiefe zu gehen, wo Ohnmacht und Monster lauern. Wer Zeit zum Nachdenken bekommt, wird irre oder stellt sich kurzerhand vor, wie er seine Nachbarin vögelt und danach in frischhaltedosengerechte Stücke portioniert. Die alte Watussnik von oben hat sich vor Kurzem die Titten machen lassen. Hat sie auch nicht glücklicher gemacht. Sie rennt weiter zu ihrem Psychoanalytiker, mit dem sie sich gemeinsam in ihrem Unglück suhlt wie eine fette Sau im Dreck. Das Einzige, woran sie nach einem anstrengenden Arbeitstag als Sachbearbeiterin beim Ordnungsamt der Stadt noch Freude hat. Woanders als auf seiner Couch tut ihr Unglück nur weh. Die Frauen wollen sie auch mit ihren Riesenmöpsen nicht. Das setzt ihr ziemlich zu. Sie hasst das Alleinsein, das einsame Abendbrot an einem erbärmlich gedeckten Tisch. Sie will endlich wieder für Zwei kochen. Auch weil sie viel zu viele Lebensmittel wegwirft. Bei HelloFresh ist ihre Welt in Ordnung. Der Lieferant hält sie jede Woche für eine Hausfrau, die ihren Mann noch nach guter Tradition mit täglich frisch zubereiteten Mahlzeiten verwöhnt. Sie flirtet sogar ein bisschen mit ihm. Warum, weiß sie nicht. Genauso wenig warum sie raucht. Sie hasst den Zigarettengeschmack und manchmal wird ihr sogar schlecht davon. Seit sie die Biotonne für sich entdeckt hat, funkt das Gewissen mittlerweile nicht mehr ganz so lästig dazwischen, wenn sie den ganzen Salat entsorgt. Und auch der Therapeut gönnt ihr mittlerweile den Spaß. Er ist es leid, sie rational zu belehren, dass dieser Schwindel auf Kosten des Klimawandels geht - grob gesagt. Immerhin hat er Frau Watussnik davon abbringen können, Staubsauger und Mikrowelle immer laufen zu lassen, um Vattenfall einen Paarhaushalt vorzugaukeln.

Schokoladenreste in meinen Zähnen. Nikotin. Tee. Kaffee. Ich rauche, wie die Watussnik, drei Schachteln Gauloises am Tag. Die blauen, seit es Menthol nicht mehr gibt. Das sind vier Zigaretten in der Stunde, manchmal zehn, manchmal nur eine. Ich habe keine Angst vor Krebs. Und dem Tod. Ich bin ihm schon einmal begegnet. Nach einem Unfall mit einem Kunden. Während Geräte mich versorgten. Eine Beatmungsmaschine mir Luft in den Lungenflügel presste.
Die Hirngespinste von wegen Licht und Tunnel und so sind total überzogen. Es gibt ein Licht, ja, aber das ist in etwa so hell wie eine 30-Watt-Glühbirne. Kein Tunnel, sondern ein leerer, kahler Raum mit nichts als wirren Gedanken gefüllt, die von allem Unrat der Sprache befreit sind. Reine, klare Gedanken. Keine Sätze. Keine Worte. Dann wieder Schwerkraft. Ich konnte mich nicht dagegen wehren. Gott sei Dank, Sam war da. Der Tod schleudert uns zurück an den Anfang. Die Lücke, die wir hinterlassen, ersetzt uns vollkommen.

Der Mann soll sich in das große, schwarze Auto vor der Tür übergeben, das ihn weit von hier fortschaffen möge. Wie einen Bandwurm, den man auskackt und hinunterspült. Weg für immer. Auf Nimmerwiedersehen entschwunden in den Weiten des ausgetüftelten Kläranlagensystems. Man muss nur pressen. Den Rest erledigen der Spülknopf und das städtische Wasserwerk. Warum kann ich nicht sagen: Verpiss dich, du Wichser!
Meine dünnen Fingerchen kneifen in meine Wangen. Prüfen nach, ob alles an seinem vorgesehenen Platz sitzt. Ob ich es noch spüren kann. Immer wieder führt man mich vor. Als wäre ich ein verpeilter Irrer. Ich sehe. Ich fühle. Ich bin. Verdammt. Ich BIN.

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Comment(1)

  1. [Enrico Bachmann, Leser] Wenn man sich pessimistisch ausbreitet, muss man achtgeben, nicht als Neurotiker rüberzukommen, der in dem Wahn lebt, als einziger die richtige Weltsicht zu haben. Dein Roman ist sehr nahe dran. Du kannst offensichtlich sehr gut mit Sprache umgehen, deshalb finde ich es Schade, dass du deine Narzisschen in eine (zu) kleine Blumenvase stopfst.

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