Schwarze Früchte: TV-Premiere ohne Zuschauer
Eigentlich sollte heute an dieser Stelle einer von vier LGBT-Filmen vorgestellt werden, die gestern von Salzgeber auf DVD und als Stream veröffentlicht wurden. Stattdessen müssen wir über Sichtbarkeit im öffentlich-rechtlichen Rundfunk reden, warum die TV-Premiere von SCHWARZE FRÜCHTE ein Problem ist und das bevorstehende Ende von One eine große Chance bietet.
Johannes Jarchow | 8. November 2024
Die Stimmung gegen Minderheiten und insbesondere auch gegen queere Menschen wird rauer, weltweit und auch im fortschrittlichen Europa. Sie scheint zu kippen, homofeindliche Hassverbrechen werden häufiger und Forderungen nach einer Rücknahme hart erkämpfter Rechte lauter. Besorgte Bürger haben das Gefühl, der Fortschritt sei zu weit gegangen und queere Menschen viel zu sichtbar. Auch im Fernsehen. Betrachtet man einen langen Zeitraum hat die Sichtbarkeit zweifelsohne zugenommen - und mit ihr die Akzeptanz. Wir haben dem Fernsehen viel zu verdanken, insbesondere dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Doch wir sind immer noch unterrepräsentiert und verdrängt.
2024 ist der Anteil der TV-Ausstrahlungen von Produktionen in Spielfilmlänge mit relevanten LGBT-Charakteren erstmals seit Beginn unserer Untersuchungen 2021 zurückgegangen. Am deutlichsten in der sogenannten Primetime, also der Hauptsendezeit ab 20:15 Uhr mit den meisten Zuschauern, wo wir uns weiter von der 1-Prozent-Marke, einem ohnehin niedrigen Niveau, entfernen. Am geringsten bei TV-Premieren mit einer queeren Hauptthematik. Diese finden nur immer häufiger im Nachtprogramm der kleineren Sender statt. Für Serien mit kürzeren Episodenlängen ist ähnliches anzunehmen. Vergleichbare Studien dazu gibt es nicht.
Die Geschichte deutscher LGBT-Serien ist kurz und begann 2003 in Sat.1 mit der Adaption des erfolgreichen Kinofilms DER BEWEGTE MANN (1994). Comicautor Ralf König bezeichnete die SitCom BEWEGTE MÄNNER (2003–2005) als schwulenfeindlich. Gut ein Jahr nach dem Ende strahlte ProSieben die ersten Folgen der innovativen Dramedy-Serie VERRÜCKT NACH CLARA (2007) zur Primetime aus. Wegen katastrophaler Einschaltquoten wurden weitere Episoden immer später gesendet, die letzte der acht Folgen lief erst nach Mitternacht. Damit endeten Experimente dieser Art im Privatfernsehen, das sich fortan auf queere Geschichten in Soaps und importierter US-Ware beschränkte.
15 Jahre passierte nichts. Bis 2020 überraschend die erste LGBT-Serie des öffentlich-rechtlichen Rundfunks angekündigt wurde. Die TV-Premiere von ALL YOU NEED (2021-2022) erfolgte im Nachtprogramm des kleinsten Fictional-Senders der ARD, der sich als EINSfestival einen Namen machte und später als "One" selbst für Google schwer zu finden ist. Der Paukenschlag verkam zu einem Versteckspiel, Zuschauer bemängelten die eindimensionalen Charaktere und fühlten sich nicht repräsentiert. Nachdem Sender und Sendezeit kritisiert wurden, schaffte es die zweite Staffel immerhin ins Hauptprogramm der ARD (22:50 bis 1:40 Uhr).
Die Frage, warum für so etwas im linearen Fernsehen kein besserer Platz gefunden werden kann, wird seit vier Jahren mit Verweis auf die Mediathek beantwortet. Christoph Pellander, Redaktionsleiter ARD Degeto, sagte etwa in einem Interview mit DWDL.de: Mit der Erweiterung um die ARD-Mediathek kam in 2020 eine neue Plattform dazu, für die wir als ARD Degeto inzwischen gezielt Projekte entwickeln, um mit einer Serie wie ALL YOU NEED Aufmerksamkeit zu erzeugen und Zuschauergruppen zu erreichen, die wir im Ersten verloren haben oder bislang noch nicht gewinnen konnten.
Warum man diese und andere Zuschauergruppen nicht auch im linearen Fernsehen erreichen möchte, bleibt unbeantwortet. Eine nach unseren Recherchen bereits geplante dritte Staffel wurde nicht realisiert.
In diesem Jahr schickte das Erste SCHWARZE FRÜCHTE ins Rennen um die Gunst des jungen Publikums, für das die ARD-Degeto-Produktion konzipiert wurde. Die TV-Premiere hätte kaum effektiver versteckt werden können. Während die Geschichte von ALL YOU NEED an zwei Tagen in der Zeit zwischen 21:45 Uhr bis 0:15 Uhr ihren Anfang nahm, fand die Erstausstrahlung von Lamin Leroy Gibbas entwickelter Serie in einem Binge zwischen 23:00 Uhr bis 3:20 Uhr statt. In dieser Zeit lassen sich bei One keine verlässlichen Einschaltquoten mehr messen. Eine Geister-Premiere ohne Publikum.
Programmverantwortliche Christine Strobl gab uns dazu folgende Erklärung: Für uns ist die Kuratierung eines Formats in der Mediathek ganz oben auf der Startseite genauso relevant wie ein Sendeplatz um 20:15 Uhr im Ersten. Wir müssen anfangen, die Qualität eines Programms am Inhalt und nicht am linearen Sendeplatz zu messen. Im Digitalen sprechen wir Menschen unter 50 an, die wir auf den klassischen Wegen immer schwieriger erreichen.
Die lineare Ausstrahlung gab es überhaupt nur wegen der rechtlichen Verpflichtung, um die Produktion in die Mediathek aufnehmen zu dürfen. Die Nachfrage, warum es keinen Sendeplatz im Nebenprogramm der ARD oder wenigstens in der Primetime von One gab, blieb unbeantwortet.
One hatte an diesem Wochenende (18.–20. Oktober) nur diese eine Premiere im Programm - das einzige Highlight in einem trüben Strom von Wiederholungen. Beim redaktionell zuständigen WDR ist man sich dessen bewusst und konnte keine weiteren Erstausstrahlungen benennen. Die Frage nach einem vollständigen Programmplan wurde mit einem Dokument beantwortet, auf dem die Primetime, die Ausstrahlung von SCHWARZE FRÜCHTE und einige andere Sendungen ausgelassen wurden. Nachfragen blieben unbeantwortet.
Die Serie hätte ein Aushängeschild für den konturlosen Sender sein können, hätte ihm ein Gesicht gegeben, einen Sinn. Mit solchen, nicht nachvollziehbaren Programmierungen verspielt man jedoch seine Legitimation. Wir brauchen keinen Kanal, der nur dafür da ist, dass die Mediatheken bespielt werden dürfen. Denn sie liefern nur Ausreden für die Marginalisierung queerer Menschen im Fernsehen.
Die Rundfunkkommission hat nun eine tiefgreifende und dringend notwendige Reform des gemessen am Gesamtbudget teuersten öffentlich-rechtlichen Rundfunks der Welt eingeleitet. Die Ausgaben für Liveübertragungen werden endlich gedeckelt, Radio- und TV-Sender fallen weg. Der Druck der Öffentlichkeit hat 3sat zunächst gerettet. Für One ist niemand in die Bresche gesprungen. Sein Ende ist kaum mehr abzuwenden. Und das ist gut so. Der Wegfall bietet die Chance, die seltenen LGBT-Produktionen bei größeren Sendern unterzubringen, die selbst in Nebenzeiten mehr Zuschauer erreichen als One jemals erreichen konnte. Die Pflicht zur linearen Ausstrahlung ist unser gutes Recht, sichtbar zu sein. Und wir brauchen diese Sichtbarkeit dringender denn je.
In Deutschland gibt es keine größere Reichweite als die Primetime im Fernsehen. Besonders bei den beiden Marktführern ARD und ZDF. Im Ersten gab es die Hauptsendezeit 2024 nur für eine Produktion mit LGBT-Schwerpunkt. Es war die elfte Wiederholung des TV-Dramas EINE FREMDE TOCHTER (2022) am 22. Mai.
Nachtrag (12.11.2024): Luisa Borchardt, Redaktion One, bestätigte nun das Ergebnis unserer Recherche, wonach SCHWARZE FRÜCHTE die einzige Premiere an diesem Wochenende war. "Unser Programm besteht hauptsächlich aus Übernahmen und dazu mit etwa 25 % Anteilen aus Lizenz-Ankäufen. Unser Budget – dies ist öffentlich einsehbar – lässt leider nur wenige Erstausstrahlungen zu."
Comment(1)
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Ich höre von dieser Serie zum ersten Mal. Warum gibt man für sowas unser Geld aus, um es dann unter dem Radar verschwinden zu lassen? Das schreit nach Homophobie. Warum kommt man damit durch? Wozu haben wir einen Rundfunkrat?