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Kim de l’Horizon: Blutbuch (2022) 9.5

Kim de l’Horizon: Blutbuch (2022)

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Aus der Vergangenheit ins Dazwischensein

9.5

De* non-binären Schweizer* Kim de l’Horizon ist mit dem BLUTBUCH ein meisterhaftes, so noch nicht dagewesenes Stück Literatur gelungen, das zu Recht mit dem Deutschen Buchpreis 2022 geehrt wurde. Ich empfehle es allen Neugierigen und Suchenden, allen.

Birgit Jarchow9.5
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Titel: Blutbuch
AKA: Bloodbook
Autor*in: Kim de l'Horizon
Genre: Biografischer Roman, Transgender-Roman, Queerer Roman, LGBT-Roman
Thematik: non-binary, alle Themen
Originalsprache: Deutsch
Erstveröffentlichung: 19. Juli 2022
Taschenbuch-Veröffentlichung: 10. Oktober 2023
Hardcover: 336 Seiten

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INHALT VON BLUTBUCH
Die Erzählfigur in BLUTBUCH identifiziert sich weder als Mann noch als Frau. Aufgewachsen in einem Schweizer Vorort, lebt sie nun in Zürich, ist den engen Strukturen der Herkunft entkommen und fühlt sich im nonbinären Körper und in der eigenen Sexualität wohl.

Doch dann erkrankt die Großmutter an Demenz, und das Ich beginnt, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen: Warum sind da nur bruchstückhafte Erinnerungen an die eigene Kindheit? Wieso vermag sich die Großmutter kaum von ihrer früh verstorbenen Schwester abzugrenzen? Und was geschah mit der Großtante, die als junge Frau verschwand?

Die Erzählfigur stemmt sich gegen die Schweigekultur der Mütter und forscht nach der nicht tradierten weiblichen Blutslinie.

Dieser Roman ist ein stilistisch und formal einzigartiger Befreiungsakt von den Dingen, die wir ungefragt weitertragen: Geschlechter, Traumata, Klassenzugehörigkeiten. Kim de l’Horizon macht sich auf die Suche nach anderen Arten von Wissen und Überlieferung, Erzählen und Ichwerdung, unterspült dabei die linearen Formen der Familienerzählung und nähert sich einer flüssigen und strömenden Art des Schreibens, die nicht festlegt, sondern öffnet.

Blutbuch von Kim de l'Horizon (2022) -- Psychologischer Roman als Taschenbuch und eBook

BIOGRAFISCHES
Kim de l’Horizon wurde 1992 in Ostermundigen bei Bern geboren. Vor BLUTBUCH versuchte Kim mit Nachwuchspreisen Aufmerksamkeit zu erringen – u. a. mit dem Textstreich-Wettbewerb für Lyrik und dem Dramenprozessor des Theaters Winkelwiese. Heute gehört Kim zur Redaktion des Literaturmagazins Delirium. BLUTBUCH wurde 2022 mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung sowie dem Deutschen Buchpreis und dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Der Roman wird nach Angaben des DuMont-Verlags aktuell in 16 Sprachen übersetzt.

KRITIK ZU BLUTBUCH
[Birgit Jarchow] Die Großmutter ist Alzheimer erkrankt und erinnert sich nicht mehr so genau. Kim hält fest, erinnert sich, fühlt und erfasst Freude und Schmerz vom Leben in der Familie in der Vergangenheit, um in der Gegenwart zu leben. Sich zu verwurzeln. Einen Platz zu finden. In der eigenen Identität. Geprägt von einer männlich-weiblichen Welt und Sprache, findet Kim sich schon als Kind da nicht wieder, hinterfragt das Leben und sich und spürt auf, sich nach, entdeckt sich selbst. Das Buch ist eine Einladung, diese Körperreisen mitzureisen. Es ist wild, brutal, schamlos und witzig, über viele Jahre geschrieben und gereift. Es ist sehr berührend und mitreißend. Es erschließt sich eine Welt, die so möglicherweise noch nie wahrgenommen wurde.

Kim de l’Horizon versucht, Sprache zu finden für dieses Dazwischensein. Die Frauen der Familie spielen die zentrale Rolle im Buch, Großmutter, Mutter. Der Vater sitzt breitbeinig auf der Couch. Schenkt dem Sohn ein Messer. Jeder Junge braucht ein Messer als Relikt offensichtlicher Männlichkeit. Das Kind versucht, das Messer zu verlieren, aber irgendwie gelingt es nicht. Kim beschreibt seine Urgroßmutter, die gern Männerkleidung trug, und benutzt immer wieder sehr eindrücklich Bilder. Die Mutter hat das Kind sehr früh bekommen und damit die Chance auf Bildung und Studium verpasst. Als Mutter ist sie hart. Auch ihre Mutter war hart. Das Leben der Generationen wird gezeichnet. Traumata, die in die Gegenwart reichen, werden deutlich. Wurzeln, Spuren, Wege. Das Kind wird krank, bekommt eine Essstörung. Es will nur noch verschwinden. Aber wird im Krankenhaus geheilt.

Formal hat das Buch einen Prolog und 5 Teile. Besonders bemerkenswert ist die Sprache, die sich in jedem dieser Teile ändert und dem Lauf der Erzählung anpasst. Das reicht von märchenhaft bis essayistisch, von popliterarisch, sachlich-recherchiert bis wissenschaftlich. Der letzte Teil ist komplett in Englisch geschrieben (mit einer deutschen Übersetzung). Die Stile begründen sich im Text – Großmutter bekommt Züge, große Hände, einen großen Mund. Mutter ist die Eishexe, Großmutter der Drache. Poetisch erklärt sich das Kind die Welt und beschreibt diese Kälte, die Angst vor der Großmutter, im ersten Teil auch so.

Im Gegensatz dazu gibt es einen gut recherchierten, abstrahierenden Teil, der die Suche nach der Blutbuche bis hin zu Goethe beschreibt. Dieses Kapitel ist inhaltlich auch spannend und passt sehr gut ins Buch, sprachlich aber nach dem märchenhaften Einstieg schwer zu lesen, Fußnoten machen es auch nicht leichter. Der Urgroßvater hat für jedes Kind einen Baum gepflanzt. Eine Blutbuche. Der Baum von einem Mädchen, das später ins Frauengefängnis muss, wird gefällt. Ein Leben soll damit ausradiert werden.

Die Mutter der Erzählfigur hat einen langen Stammbaum angelegt in Vorbereitung der Beerdigung von der noch lebenden Großmutter. In kurzen Geschichten werden Frauen der Familie beschrieben. Auch Hexen, Hexenverfolgung, der Schmerz der Frauen, ihre Diskriminierung für Freiheiten, die sie sich genommen haben, für nicht geschlechterkonformes Verhalten, das aus der familiären Vergangenheit kommt und bis in die Gegenwart reicht. Die Sprache ist hier oft sogar lyrisch, mystisch oder magisch.

Der letzte Teil ist auf Englisch verfasst. In einer fremden Sprache, die weder Mutter noch Großmutter verstehen und die auch Kim sich nur erarbeitet hat. Aus Angst davor, dass die Großmutter den Text doch noch liest. Manchmal ist auch dieser Teil sehr akademisch, aber auch vulgär, verletzend, sogar heilend.

Sex spielt teilweise eine sehr große Rolle in dem Buch. Es gibt außerordentlich harte Sexszenen, die verstören, Sexsucht und phasenweise die ständige Suche nach sexueller Befriedigung in verschiedenster Form.

BLUTBUCH ist ein überwältigender, für mich ganz neuartiger Roman über Familie und Herkunft, Körperlichkeit und Geschlecht. Wie sehr prägen uns tradierte Zuschreibungen? Können wir sie je abschütteln? Kim de l’Horizon begibt sich auf diesen Weg, legt den Finger in die Wunde.

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