Marvin (2017)
Radikaler Gegenentwurf zu "GOD'S OWN COUNTRY" und anderen schwulen Dorfromanzen
Anne Fontaine ließ sich für ihren 15ten Spielfilm MARVIN vom tragischen Schicksal des schwulen Bestsellerautors Édouard Louis und seinem autobiografischen Roman DAS ENDE VON EDDY inspirieren. Entgegen der Vorlage fokussiert sie auf den Umgang unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten mit Homosexualität - nicht auf den Titelhelden. Der Widerspruch ist Programm.
Das grobschlächtige Leben in der Provinz ist ein hartes Pflaster für Zartbesaitete, Extravagante und erst recht für androgyne, schwule Jungs. Jedenfalls in der Provinz des Lumpenproletariats, wie die Regisseurin sie aus der Kindheit kennt und hier inszeniert. Da trinkt man mit 13 Bier und wird später hinterm Zirkuszelt entjungfert. Von irgendeiner 13jährigen, die ebenfalls besoffen ist und das erste Mal einfach hinter sich bringen will. Mit 13 gehört man da schon zu den Spätzündern. In der französischen Provinz der Bauern und Sozialschmarotzer, so wie Fontaine sie kennt und inszeniert.
Natürlich muss ein Film verkürzen und ausschneiden - und das macht das kluge Drehbuch von Pierre Trividic und Anne Fontaine ausgezeichnet. Die Sätze purzeln scharf und geistreich aus den Darstellern vor passender Kulisse. Allein, sie bleiben Thesen und ergeben kein rundes, lebendiges Ganzes. Zu archetypisch die Figuren, die Plumpen und die Dandys, die Gönner und die Musen, die Opfer, die Täter, die Retter. Das ist Theater, wie all die melancholische Symbolik - vom abgewandten Abschied bis zur Einsamkeit in jeder Einstellung -, und bleibt hinter den Möglichkeiten eines authentischen Spielfilms.
Und authentisch möchte Fontaine sein, wie die Wahl der Schauspieler zeigt. Grégory Gadebois und Catherine Salée geben die unempathischen Eltern quasidokumentarisch exakt. Gleiches gilt für den gesamten Cast mit Ausnahme der beiden Marvin-Darsteller. Finnegan Oldfield gehört auf eine Bühne, nicht in einen Film. Man kann ihn aus der Ferne bewundern, ein Closeup enttarnt große Talentlücken. Aber darüber lässt sich natürlich streiten (seine César-Nominierung ist ein gewichtiges Gegenargument). Ebenso darüber, warum Isabelle Huppert eine Isabelle Huppert nach Wunsch und Vorstellung der Co-Autoren spielt. Sie spielt alles, aber nicht Isabelle Huppert. Sie ist eine Prominente, die dem Film Beachtung schenken soll. Genau wie die Kunstfigur dem Im-Film-Theaterstück zu Glanz und Gloria verhilft.
Dass MARVIN am Ende trotz aller Schwächen ein künstlerisch anspruchsvolles Gesellschaftsportrait ist, darüber lässt sich offensichtlich nicht streiten. Feuilleton und Zuschauer jubeln. Obwohl Fußball-WM ist, fällt mir das Mitjubeln leicht. Es ist nicht rund, aber für knappe sieben Punkte reicht es allemal. Mindestens Viertelfinale. Und wenn der geneigte Zuschauer nicht nachdenkt, fällt er auch nicht. Über das Schwarz und Weiß in den Abgrund hinein. Wie ein Seiltänzer. Nachdenken macht blaue Flecken.
QUEERfaktor: 10 (Queer-Theorie als Film)
BUNNYfaktor: 6.5 (Theater-Sex)